Dieser Text ist nicht von mir, sondern wurde von Clara Wrede 2012 für die Zeitung fifty-fifty verfasst. Alle Straßenmaler kennen die Geschichte der Straßenmalerei, aber Clara Wrede ist es gelungen, diese Geschichte sehr angenehm in Worte zu fassen.
Die Pflastermalerei, auch Straßenmalerei oder Pavement Art genannt, entwickelte sich bereits im 16. Jahrhundert in Italien. Damals, zur Hochzeit der Renaissance, wurden die Straßen häufig mit Madonnendarstellungen geschmückt, denn die Originale waren nur in Privathäusern und Kirchen aufzufinden. An diesen Orten waren sie der Öffentlichkeit oft vorenthalten, denn Heiligenbilder wurden nur zu bestimmten Festtagen präsentiert und ansonsten das Jahr über weggeschlossen. „Madonnari„, wie die Straßenmaler damals in Italien treffend genannt wurden (und so heißen sie heute noch), boten dem Volk die Möglichkeit, Madonnen und Ikonen aus der Nähe zu sehen. Die Pavement Art begann also mit den Madonnari. Sie waren Kopisten, die versuchten, berühmte Vorlagen technisch möglichst einwandfrei zu duplizieren. In dieser Tradition kopieren noch heute Straßenmaler in den Fußgängerzonen Bilder von Rembrandt, Boticelli, El Greco oder anderen alten Meistern.
Von den Madonnari zu 3-D-Kunst
Doch während die alten Madonnari gesellschaftlich respektiert waren, werden Straßenmaler heute oft als randständig betrachtet, bisweilen sogar verachtet. Als Anfang der 1970er Jahre in Italien ein Madonnen-maler verhaftet wurde, weil er eine Straße verschönerte, entschieden sich die Journalistin Maria Grazia Fringuellini und der Ethnologe Gilberto Boschesi ein Festival zu organisieren, um dieser alten Tradition wieder zu Respekt zu verhelfen. Am 15. August 1972 fand auf einem Kirchplatz in Curtatone das erste Festival mit acht Teilnehmern statt. Heute ist „Grazie di Curtatone Madonnari„ der international anerkannteste Pavement-Art- Wettbewerb und zieht jedes Jahr viele Maler und Zuschauer an. Der Gewinner erhält den Titel „Maestro Madonnaro„, die Gewinnerin entsprechend „Maestra Madonnara„. Nach dem Vorbild von Curtatone finden mittlerweile in vielen Städten anderer Länder ähnliche Wettbewerbe statt.
Doch die Zunft hat sich weiterentwickelt. Die moderne Variante der Pflastermalerei präsentiert sich zeitgemäß in 3D-Art. Dabei versucht der Maler sein Bild so anzulegen, dass es aus einem bestimmten Blickwinkel dreidimensional wirkt und die Grenzen zwischen Wirklichkeit
und Bild verschwimmen. So kann sich der Betrachter in einer Welt wiederfinden, in der zum Beispiel mitten auf der Einkaufsstraße ein Wasserfall in einen unendlichen Abgrund stürzt. 3D-Künstler ähneln den Madonnari darin, dass sie
Perfektion in der realistischen Darstellung bemühen. Sie wählen aber nicht unbedingt klassische Motive, denn sie wollen Faszination durch optische Täuschung erzielen.
Der Szene-Star Kurt Wenner
Einer der gegenwärtig bekanntesten und innovativsten Straßenmaler ist Kurt Wenner. Der Amerikaner verließ 1982 seine Heimat und wanderte für die nächsten 28 Jahre nach Italien aus. Wenner, der an der Rhode Island School of Design studierte, hegte eine starke Affinität zur Malerei der Renaissance und wollte deren Techniken selbst erlernen. Ihm, der zuvor für die NASA als Scientific Space Illustrator gearbeitet hatte, wurde schnell klar, dass die klassischen Ideale, die Formen und Fähigkeiten der Renaissance das Thema seines Lebens waren. Er verschloss sich der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, studierte stattdessen die alten Meister und lernte in Rom die klassische figurative Malerei. Zur Straßenmalerei kam Wenner eher zufällig: Um seine Studienreisen in Italien zu finanzieren fing er an, als Madonnaro auf der Straße sein Geld zu verdienen und auch an Wettbewerben teilzunehmen, von denen er viele gewann. Wieder zurück in Amerika hielt er Vorträge und gab Workshops zur Pavement Art.
Wenners Hauptinteresse liegt darin, die Ideen und Techniken der Renaissance weiterzuentwickeln und eine Wiederbelebung zu erreichen, ähnlich wie die Renaissance selbst eine Wiedergeburt der Klassik war. Wenner legt dabei besonderes Augenmerk auf die Perspektive, mit der sich die Geschichte des Bildes im besten Fall weiterspinnen lässt. 1984 entwickelte er die „Wenner hyperbolic perspective„, auch als ana-morphorische Perspektive bekannt. Durch die Verzerrung des Bildes und bestimmte Blickwinkel gelang ihm eine bis dahin nicht erreichte Illusion der Dreidimensionalität. Wenner entwickelte so die Straßen-malerei maßgeblich weiter. 1986 gründete er das erste amerikanische Chalkfestival im kalifornischen Old Mission/Santa Barbara. 2011 veröffentlichte er das Buch „Asphalt Renaissance„. Als Höhepunkt in Wenners Schaffen kann der Auftrag in Mantua 1991 gesehen werden. Wenner malte dort ein Straßenbild zu Ehren der Ankunft von Papst Johannes Paul II. Die Komposition hatte einen Umfang von 15 mal 75 Metern, Wenner instruierte 30 der besten Pavement Artists, bis das von ihm entworfene Werk nach zehn Tagen vollendet war. Ein begeisterter Papst signierte das Werk und erkannte Pavement Art of-fiziell als religiöse Kunst an. Eine bedeutende Geste in Anbetracht der langen Tradition der Madonnari.
Kunst oder nicht?
Warum halten Menschen an, betrachten die Bilder der Straßenmaler und werfen freiwillig etwas in den Hut? Schließlich kauft man das Werk ja nicht und es wird auch nicht in einem Museum präsentiert. Der Materialaufwand ist minimal und von Kopisten wird nicht einmal ein originelles Motiv geliefert. Warum ist also die Tätigkeit des Madonnari so faszinierend?
Besonders bei der 3-D-Pavement-Art erlebt der Betrachter eine Illusion, ähnlich wie bei einem Zaubertrick. Faszinierend scheint darüber hinaus zu sein, dass das Ergebnis all der Mühe und des Kön-nens so vergänglich ist. Ob Regen, die Straßenreinigung oder die Passanten – Pavement Art ist so rasch wieder verschwunden wie sie aufgetaucht ist. Pavement Art bleibt ein flüchtiger Augenblick, der, wenn überhaupt, nur wenige Tage existiert. In der Szene gelten die kommerziell oder im Wettbewerb erfolgreichen Maler als Künstler. Aber auch unter Laien ist der Glaube, dass eine perfekte Kopie ein Kunstwerk sei, weit verbreitet. Doch diese Vorstellung disqualifiziert zugleich alles, was weniger realistisch und eher abstrakt ist. Dabei ist die Geschichte der modernen Kunst auch eine Geschichte der Auflösung der Form. Als Claude Monet 1872 mit „Impression, soleil levant„ das Schlüsselwerk des Impressionismus schuf, war die Zerstörung der realistischen Form ein bewusster Akt. Die Pavement Artists aber haben ein Problem mit der Auflösung der Form, denn ihr Geschäft basiert auf dem Performance-Konzept und einer artistischen Leistungsidee. Würden sie die Figur auflösen, ginge dieser Effekt verloren.
Allerdings spielt die Vergänglichkeit der Straßenmalerei in bemerkenswerter Weise auf die Auflösung der Form in der modernen Kunst an. Wenn Kurt Wenner in seinem Buch dokumentiert, wie der Regen seine Bilder verwäscht oder Fußspuren sie überstempeln, dann fängt er Momente ein, die Veränderung, Auflösung und Übergang bedeuten. Von heute aus betrachtet macht er vielleicht genau dann Kunst, wenn er den Zerfall seines Werkes dokumentiert.
2012 Hatte Marion Ruthardt die super Chance, zusammmen mit Kurt Wenner eine seiner Ideen zu verwirklichen. Das ist Kurts Original Skizze. (www.kurtwenner.com)
Aber nicht nur Kurt Wenner und Marion Ruthardt (im Bild ganz oben) arbeiteten an der Verwirklichung, sondern noch 13 Personen aus aller Welt malten 6 Tage an diesem Bild. Die Mit-Künstler kamen unter anderem aus der USA, China, Japan, Australien und Italien. Jeder Unterschied, der in der Kultur oder der Mentalität der Künstler zu finden war, verschwand hinter dem gemeinsamen Ziel, ein tolles Bild zu malen, und viel von Kurt zu lernen. Es war eine wunderschöne Zeit!
So sah das endgültige Werk aus. Die Säulen wurden duch einen neuen optischen Trick auf einer zweiten Ebene gestaltet. Genaues wird hier nicht verraten.
Das Ganze fand statt im Rahmen des Sarasota Chalkfestivals 2012. Der krönende Abschluß war dann eine nächtliche Theateraufführung.Dieses Stück wurde extra entsprechend zum Bild entworfen. Das nennt man ein gelungenes Gesamtkonzept!
2014 hatten wir die Chance, wieder ein Bild nach einer Skizze von Kurt Wenner zu malen.
Das war gar nicht so einfach, denn Kurt hat einen ganz speziellen Stil, und außer Gregor und mir waren noch ca 30 andere hoch-qualifizierte Maler dort, die alle einen eigenen Duktus haben. Unser "Direktor" Julie Kirk paßte aber auf, daß das Ganze sich zu einem Gesamtbild entwickelte . Kurt Wenner kam leider nicht mal zur Kontrolle vorbei